Dienstag, 29. Dezember 2009

A Travel Log

Wir benehmen uns wie Touristen. Lassen uns widerstandslos von der Rezeptionistin einen Stadtplan geben, auf dem sie den Dom, die Linden und Checkpoint Charlie mit einem blauen Kugelschreiber einkreist. Wir gehen zu Fuß. Das war früher, als wir noch in Berlin lebten, verpönt. "Man geht nicht zu Fuß und ist nie müde". Meine beiden ersten Berliner Lektionen. Wir frühstücken zum ersten Mal im Leben am Gendarmenmarkt. Der Weihnachtsmarkt ist noch in vollem Gange. Gegenüber vom Stammhaus Lutter & Wegner entdecken wir einen schmächtigen E.T.A. Hoffmann im Gebüsch. W. weiß, warum er hier steht, sieht aber den Winzling auch zum ersten Mal. 1815 rief Hoffmann mit dem Schauspieler Ludwig Devrient im Weinkeller von L&W das Wort "Sekt" ins Leben. Mein Berliner Ehemann weiß noch mehr: Dass sich seither die Berliner in den Haaren liegen, ob der Name von Hoffmanns Saufkumpel Französisch, Deutsch oder Berlinerisch auszusprechen sei. Wir wollen zur Zimmerstraße 90/91. Dazu müssen wir tatsächlich über den Checkpoint. Um in Sun-Jun Kims elektroakustischen Kompositionen und Klanginstallationen den Weg nach Hasla zu finden. Welcome to Hasla heißt das Projekt, an dem der DAAD-Stipendiat in Berlin arbeitet. An der Zimmerstraße präsentiert er noch bis übermorgen vier Klanginstallationen unter dem Titel A Travel Log: From Fwarrheu to Hejning. Damit sucht der koreanische Komponist "Wege nach Hasla", wie es im Begleittext heißt. Hasla sei "eine fiktive Gegend, deren Existenz sich uns einzig durch die Klänge und Artefakte erschließt, die aus diesem imaginären Land mitgebracht wurden, und durch die mitgeteilten Erlebnisse eines Reisenden, der Hasla angeblich durchquert hat." Wir öffnen unsere Seelen diesem verstörenden Ort. Die Ohren zu öffnen, ist fast hoffnungslos. Dieser Ort ist leise, wie kaum etwas anderes in unserer Welt. In meinem Kopf ist "Hasla" der polnische Plural zu "hasło" (=Stichwort, Schlagwort) und gehört als handschriftliche Tinteneinträge in die Holzkarteikästen der Krakauer Jagiellonenbibliothek. Dann besuchen wir den leeren Schlossplatz und verinnerlichen uns Kims Klanginstallationen unter freien Himmel, im freien Feld, mit nie dagewesener freier Sicht auf die Spree: "In tune, out of tune". Kim nennt sie "Ortsbewusstseinserkundung". Er bat 60 Berliner verschiedenen Alters, ihm ein Lied vorzusummen, das sie an die eigene Kindheit erinnert. Entstanden ist daraus eine 17 Minuten lange 8-Kanal-Ton-Komposition, strukturiert mit Glockenklängen zu musikalischen Sätzen - eine wahre Symphonie "versteckten Frohsinns" (O-Ton Folkmar Hein, ehem. Leiter des Elektronischen Instituts der TU Berlin). Sehr empfehlenswert, noch bis zum 31.1.2010, von 8 bis 22 Uhr jeweils zur vollen und halben Stunde, aus 8 Lautsprechern auf der Banklinie zwischen Berliner Dom und Hochschule für Musik Hanns Eisler.

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