Mittwoch, 20. Januar 2010

Die Vielsilbigkeit

Dass deutsche Komposita Kopfschütteln verursachen, ist bekannt. Zumeist handelt es sich dabei um Substantivanhäufungen oder Substantivierungsungetüme. Heute ist das Unwort des Jahres 2009 gekürt geworden, ein adjektivisches Kompositum, das kaum jemandem geläufig ist, wie die Kommentare zeigen: betriebsratsverseucht. Dieses Unwort ist nur kompatibel mit Menschen, die in einem Angestelltenverhältnis (noch) sind oder (deshalb leider) waren. Die Jury begründete ihre Wahl so: das Unwort drücke einen "sprachlichen Tiefpunkt im Umgang mit Lohnabhängigen" aus.
Eine Rüge ereilte ein traditionelles Kompositum: die von Frau Merkel auf einem "Bürgerforum" der Bertelsmann-Stiftung in die Welt gesetzte Flüchtlingsbekämpfung. Dieses zweitplatzierte Unwort erinnert mich irgendwie unschön an Schädlingsbekämpfung. Und rückt damit in meinen Ohren unweigerlich semantisch in die Nähe der Wortwahl jenes Abteilungsleiters einer Baumarktkette, dem wir angeblich das überraschende Unwort des Jahres verdanken. Beide Wörter dokumentieren auf verblüffend ähnliche Weise einen sprachlichen Tiefpunkt im Umgang mit Menschen - nämlich eine Klassifizierung in gute und weniger gute, wertvolle und weniger wertvolle, brauchbare und weniger brauchbare Menschen.

Da haben es die Schweizer besser. Sie küren neben dem Unwort auch das Wort des Jahres. Das Unwort des Jahres 2009 ist ein innenpolitisches Lexem: Ventilklausel. Es entspricht in der Sache etwa dem gerügten Zweitplatzierten oben. Aber die political correctness verbietet es den Helvetiern, diese - wie sie offiziell genannt werden - "ein- und rückwandernden Personen aus dem EU-Raum" als Flüchtlinge zu bezeichnen. Das Schweizer Wort des Jahres 2009 ist blutjung und, wie man meinen könnte, keusch und reinweiß wie das Kreuz im roten Feld. Aber es hat eine Blitzkarriere rund um den Erdball hinter sich, wie kein anderes. Es ist international in aller Munde, hat weltweit seine Initiation gefeiert, ist im wahrsten Sinne des Wortes globalisiert: Minarettverbot.

Den Schweizer Satz des Jahres "Ich bin nicht gut integriert - ich bin Schweizer" sprach gelassen aus der U17 Spieler Granit Xhata. Sein Schweizer Team gewann 2009 die U17 Fußball Weltmeisterschaft. Der Deutsche Satz des Jahres stammt aus einer anderen Bevölkerungsschicht: Das steht mir zu, sagte die damalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt im Sommer in Alicante zu Journalisten, nachdem bekannt geworden war, dass ihr Dienstwagen an ihrem Ferienort gestohlen worden war. Ihre Partei verlor die Wahlen im Herbst 2009 nicht wegen dieses Vierwort-Satzes. Trotzdem gehe ich davon aus, dass diese Dienstwagenaffäre einschließlich Diebstahls und Rückgabe von den politischen Gegnern in Szene gesetzt worden war.

Das Schweizer Jugendwort des Jahres ist eigentlich ein Satz: sbeschtewosjehettsgits ["sBeschte wos je hetts gits" - analog übersetzt: "das Beste, was es je hatte gibt"]. Die Deutschen kennen ein solches nicht.

Samt und sonders, scheint mir, sprachliche Tiefpunkte. Im Umgang mit anderen, wie mit sich selbst. Mentale Tiefpunkte. Moralische Tiefpunkte. Tiefpunkte. Klassifizierung. Diskriminierung. Wertung.

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