Samstag, 24. April 2010

Polens Lehr- und Wanderjahre

Marszałek Sejmu (Parlamentspräsident) Bronisław Komorowski übernahm vor zwei Wochen die Amtsgeschäfte des tödlich verunglückten polnischen Präsidenten. So schreibt es die Verfassung vor. Er gehört der Partei von Premierminister Tusk an. Tusk und Kaczyński, dies war nie ein Geheimnis, waren sich spinnefeind. Hatte doch der amtierende Premier seinen Vorgänger, den Zwillingsbruder des Präsidenten, nach nur einem Jahr im Amt durch einen demokratischen Akt (Wahlen) abgelöst.
Der Interimspräsident Komorowski ist gleichzeitig Kandidat seiner Partei für das Präsidentenamt. Dies war lange vor der Tragödie vom 10. April bekannt. Auch, dass Lech Kaczyński kaum eine Chance auf Wiederwahl haben würde. Komorowski ist sich bewusst, dass er momentan "als erster über ein Minenfeld schreitet".
In Polen gibt keine erprobte politische Kultur, es gibt nur eine lang erprobte religiöse Kultur. Der 1. November, Zaduszki (Allerseelen) ist der allerwichtigste Feiertag im Land, aller im Laufe der Zeit wechselnder und noch so pompös begangener Nationaler Feiertage zum Trotz. Das war immer so und wird immer so bleiben. Man hat sich gebührend verneigt vor den Toten des Flugzeugabsturzes bei Smolensk. Gestern Abend wurden die sterblichen Überreste der letzten 20 Opfer nach Polen überführt und können nun, was für die nationale Identität wichtig ist, in polnischer Erde bestattet werden. Das rechtspopulistische katholische Radio Maryja (ein Organ der Katholischen Kirche, also letztlich dem Papst unterstellt) agitiert seit Bekanntwerden des Todes von Lech Kaczyński auf niedrigstem Niveau politisch, spricht von "Anschlag" und weiss, dass beide Kaczyński-Brüder umgebracht und dadurch dem Land größtmöglichen Schaden zugefügt werden sollten. Jarosław Kaczyński überließ im letzten Moment seinen Platz in der Maschine einem Parteikollegen - besorgt um den Zustand der schwer kranken Mutter wollte er lieber in Warschau bleiben. Es ist auch kein Geheimnis, dass jeder Platz in der Präsidentenmaschine heftig umkämpft war, dass Mitglieder der Partei des Präsidenten bevorzugt wurden, dass die Liste erst wenige Stunden vor dem Abflug definitiv feststand. Niemand überlegte sich, ob es andere als Loyalitätsgründe geben könnte, die Maschine nicht bis zum letzten Sitz mit Würdenträgern vollzupacken. Im Verteidigungsministerium heißt es inzwischen, die Passagierliste hätte so nie akzeptiert werden dürfen. Der Sicherheitsdienst hingegen betont, man habe sich an die Vorschriften gehalten. Die alte Tupolew war unter anderem überladen. Beim Absturz kam auch der Beichtvater des Präsidenten ums Leben.

Mittlerweile werden Fragen laut, wer die "persönliche" Verantwortung für den Absturz trage. Ehemalige Präsidenten und Premierminister bestätigen übereinstimmend, dass sie bei ihren Dienstflügen von der Besatzung über Probleme während des Fluges unterrichtet wurden.

Lech Kaczyński ruht nun mit seiner Ehefrau auf dem Wawel, zusammen mit polnischen Königen, polnischen Nationaldichtern, polnischen Nationalhelden. Ob der Alabastersarkophag neben der Piłsudski-Gruft die letzte Ruhestätte der beiden bleibt, wird die Geschichte zeigen. Sowohl die katholische Kirche (als Hausherrin der Kathedrale und ihrer Krypten auf der Wawelburg) als auch die Hinterbliebenen ließen umgehend dementieren, sie hätten "als erste" den Wawel als Begräbnisstätte vorgeschlagen. Polnische Sprachpfleger bemängeln bereits, die Inschrift auf dem Sarkophag sei fehlerhaft. Zwischen Geburts- und Ehename der First Lady fehle ein Bindestrich.

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