Mittwoch, 1. April 2015

Kein Aprilscherz

Meldorf ist eine lebenswerte Stadt ... unten mein vollständiger Text. Die Zeitung gab den Rahmen vor und ich hatte mich nicht daran gehalten, deshalb wurde gekürzt:


Meldorf ist eine lebenswerte Stadt, weil …
… es hier einen Bahnhof gibt! Jeder Mensch will irgendwann ankommen, aus dem fahrenden Zug aussteigen, seinen Fuß auf festen Boden setzen und zu Hause sein. Untypischerweise kam ich von Norden an. Am Ostersamstag 2007 hievte ich mein bepacktes Fahrrad auf den damals noch einzigen Bahnsteig in Meldorf, wo mich W. erwartete und in die Arme schloss.
Eine gute halbe Stunde zuvor war ich von Süden durch den Meldorfer Bahnhof durchgebraust. In einem IC, in dem ich seit Berlin in Fahrtrichtung am Fenster saß. Aus Rücksicht auf das Fahrrad wollte ich nicht öfter als nötig umsteigen. Und so kam es, dass ich um die Mittagszeit durch einen fast verlassenen Bahnhof rauschte. Nur ein einziger Mensch stand dort, unter der Bahnhofsuhr und vollführte riesige kreisende Bewegungen mit beiden Armen. Falls ihn jemand – außer mir – gesehen hatte, musste er gedacht haben, da stehe ein Besessener. Es war W., der mich in Meldorf willkommen hieß, bevor ich angekommen war. Auf meiner ersten rasanten Durchfahrt. In Heide verließ ich den Schnellzug, wechselte den Bahnsteig und fuhr mit dem nächsten Triebwagen der NOB sieben Minuten lang zurück.
W. arbeitete seit Semesterbeginn an der FHW und bewohnte tage-, wochenweise eine Ferienwohnung nach der anderen. Er zog immer weitere Kreise um seinen Arbeitsplatz, bis er Anfang April in Meldorf über einer Zahnarztpraxis landete. Eine Mitarbeiterin der Tourismusinformation hatte ihn dorthin geschickt, weil das doch gut passe, wie sie sagte. Eine Schriftstellerin und eine Malerin. Damit meinte sie mich und die Zahnarztfrau.
An den Weg vom Bahnhof an die Hafenchaussee kann ich mich nicht erinnern. Wir müssen, beide auf den Fahrrädern, irgendwie über den Domhügel gekommen sein. Wahrscheinlich fuhren wir trotz des Fahrverbots durch die Gehstraße. Ich keuchend hinter W. her, die Geschäfte waren sicherlich bereits geschlossen, das Pflaster noch nicht erneuert. Am Dom vorbei. Ostern stand vor der Tür. Hatte ich ihn auch nur eines Blickes gewürdigt? Ich weiß es nicht mehr. Wahrscheinlich brummte mir der Schädel von der mehrstündigen Fahrt am Fenster und rüttelte mich erst das Kopfsteinpflaster vor der Polizeiwache etwas auf.
Wir fuhren noch monatelang hin und her. Ich schrieb über der Zahnarztpraxis das schlimmste Kapitel meines Lebens auf. Die Tourismusinformation hatte sich nicht geirrt. Es passte gut. Ich arbeitete am frühen Morgen, noch bevor der Zahnarzt zu bohren anfing, so lange, bis es nicht mehr ging. Dann fuhr ich zum Deich. Meldorf ist eine lebenswerte Stadt, weil sie an der Zielgeraden zur Nordsee liegt!
Mittlerweile gibt es einen zweiten Bahnsteig und wir wohnen auf der anderen Seite der Bahnlinie. Mein Weg ans Wattenmeer ist länger geworden. Am Bahnhof komme ich jetzt entweder auf der richtigen oder auf der falschen Seite an. Ich muss aus beruflichen Gründen immer wieder wegfahren. Manchmal für längere Zeit. Nach Osten, über die Landesgrenze, nach Warschau oder Kwiatonowice, in den hintersten Zipfel Europas. Oder nach Süden, in die Schweiz – ein Land, in dem es vor lauter Bergen keinen Wind mehr gibt. Nicht nur deshalb atme ich immer erleichtert auf, wenn ich am neuen Bahnsteig ankomme. Meldorf ist eine lebenswerte Stadt, weil es hier keine Berge gibt und nichts dem Wind im Wege steht.

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