Freitag, 18. Januar 2008

Der Schuhauflagenabstand

Auf der Suche nach den Unwörtern der letzten Jahre stoße ich auch auf die Wörter der besagten Jahre. Und auf die Grenzen im deutschsprachigen Raum. Deutschland, Liechtenstein, Österreich und die Schweiz prämieren ihre eigenen Wörter und Unwörter. Die Unterschiede sind frappant. Für das Jahr 2007 zeichnet Deutschland „Klimakatastrophe“ zum Wort des Jahres aus, während Liechtenstein „Klimahandel“ und die Schweiz „Klimakompensation“ zum Unwort des Jahres erklären. Österreich geht mit „Komasaufen“ (Unwort) und „Bundestrojaner“ (Wort) eigene Wege.

Ich frage mich nun, was das Wort vom Unwort unterscheidet. Wann ein Wort zum Unwort wird - so wie die Tat zur Untat, der Dank zum Undank oder das Glück zum Unglück. Das Wetter zum Unwetter. Die Schuld zur Unschuld. Der Fall zum Unfall.

Ist das Wort ein Vermögen und das Unwort ein Unvermögen? Oder ist das Verhältnis von Wort zu Unwort eher mathematischer Art, so wie das der Summe zur Unsumme, der Menge zur Unmenge? Was ist monströser, die „Klimakatastrophe“ oder der „Klimahandel“, bzw. die „Klimakompensation“?

Ich bin verwirrt und gucke in die Vergangenheit. Im Jahr 2005 kürte Deutschland ein weibliches Kompositum, die „Bundeskanzlerin“ zum Wort des Jahres; Österreich hingegen eine männliche Variante davon, den „Schweigekanzler“ und Liechtenstein ein politisches Unding, das „Koalitionsharakiri“. Die Schweiz hatte in jenem Jahr keine Führungsprobleme und prämierte mutig eine nicht dudenkonforme Substantivierung, die „Aldisierung“ zum Wort des Jahres.

So weit, so gut. Erst die Gegensätze machen den Reiz einer Geschichte aus. Das Wort und das Unwort. Wie die Ehre und die Unehre, oder der Stern und der Unstern, das Wissen und das Unwissen, der Friede und der Unfriede. Deutschland stellt dem Wort „Bundeskanzlerin“ das Unwort „Entlassungsproduktivität“ zur Seite, Österreich dem „Schweigekanzler“ die „Negativzuwanderung“, Liechtenstein dem „Koalitionsharakiri“ die „Auberginenfürze“ und die Schweiz der „Aldisierung“ die „erlebnisorientierten Fans“.

Was ist an der „Aldisierung“ qualitativ anders als an den „erlebnisorientierten Fans“? Oder umgekehrt gefragt: was wertet die „erlebnisorientierten Fans“ ab und die „Aldisierung“ auf? Die Schweizer Jury beeilt sich, ihre noch junge Tradition der Wörter und Unwörter zu festigen. Das Wort, schreibt sie, sei treffend und erhelle einen Sachverhalt, erzähle eine ganze Geschichte, entlarve. Das Unwort tue das Gegenteil davon, es verdrehe, verschleiere, verdunkele und beschönige. Das ist etwa so, scheint mir, wie mit der Tiefe und der Untiefe, wie mit dem Wesen und dem Unwesen oder der Rast und der Unrast. Erhellt der österreichische „Schweigekanzler“ im Gegensatz zur „Negativzuwanderung“ einen Sachverhalt? Erzählt das Schweizer Wort des Jahres 2007, „Sterbetourismus“ im Gegensatz zum Unwort des Jahres 2007 „Klimakompensation“ eine ganze Geschichte? Beschönigen die „Auberginenfürze“ etwas, während das „Koalitionsharakiri“ nichts beschönigt? Was ist am Wort des Jahres 2007 in Deutschland, der „Klimakatastrophe“ so entlarvend und am Unwort des Jahres 2007 in Deutschland, der „Herdprämie“ so verschleiernd? Fragen über Fragen. Halsbrechen über Halsbrechen. Es gab immer schon Arten und Unarten. Segen und Unsegen. Geschick und Ungeschick. Lust und Unlust. Rat und Unrat. Recht und Unrecht. Ruhe und Unruhe. Wert und Unwert. Wille und Unwille.

Die Nulltoleranz gehörte zu den wichtigen Wörtern in der deutschsprachigen Schweiz im Jahr 2005. Die Nulltoleranz, lese ich, sei nicht nur ein Wort aus der Eishockey-Welt, sondern stehe auch für eine neue Grundhaltung der Gesellschaft. Ob Nichtraucherzüge, Flughafenkontrollen, Skibindung- und Schuhauflagenabstand, Leinen- oder Maulkorbzwang, Stallpflicht für Geflügel, Tempoüberschreitung, Asylwesen oder Promillegrenze – die Toleranz tendiere überall Richtung Null.

Ist das nun gut oder schlecht? Darauf weiß ich keine Antwort. Ich arbeite mit den Händen. Es ist mir gelungen, ein paar Komposita mit Seltenheitswert einzusammeln. Und einen neuen Absatz für meinen Schuhroman zu finden. Der Schuhauflagenabstand. Es gibt auch Texte und Untexte. Band und Unband. Hold und Unhold. Glimpf und Unglimpf. Getüm und Ungetüm. Glaube und Unglaube. Land und Unland. Sitte und Unsitte. Treue und Untreue. Zeit und Unzeit.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen