Mittwoch, 19. November 2008

Mein versteinerter Ostseedaumen

W. fuhr heute früh zu einer Tagung an den Timmendorfer Strand. In der Mittagspause ging er an der Ostsee spazieren. Am Abend kam er ans Wattenmeer zurück, umarmte mich und überreichte mir ein Geschenk. Einen Stein, den er im Sand gefunden habe, sagte er bescheiden. Einen grauen, etwas länglichen, feingeschliffenen, flachgedrückten Stein mit seltsamen Höhen und Tiefen.

Ich nehme den Stein in die Hand und befühle ihn von allen Seiten, betrachte und beschnuppere ihn. Dann sehe ich, dass es ein Finger ist. Der Stein ist mit einem Fingernagel ausgestattet, einem Nagelbett und einem Nagelmöndchen, einer Nageltasche und einer Nagelwurzel. Nur Finger brauchen solche Dinge. Nichts sonst auf Erden. Weil mein rechter Daumen immer noch nicht ganz gesund ist, presse ich den Steinfinger mit dem Mittelfinger an die Daumenunterseite. Ich merke, dass er da hinpasst, ja hingehört. Ich merke, dass auch die Einbuchtung für das Fingerglied meines Mittelfingers vorhanden, ja nur dafür vorgesehen ist. Der Stein ist nicht nur ein Finger, er ist mein Finger. Mein Daumen. Mein rechter Daumen. Ein etwas zerquetschter Abdruck meines ganzen rechten Daumens mitsamt eines Anflugs von Daumenballen und kurzer Daumenmuskulatur. Der Zeigefinger kann sich locker über die beiden Fingernägel legen, über den meines Körperdaumens und den meines Steindaumens. Das Geschenk - der Stein, mein Finger, mein Daumen - ist wie gemacht für meine rechte Hand und das schmerzende Daumensattelgelenk. Der Steindaumen hat, ich spüre es sofort, etwas Beruhigendes an sich. Die Wellen der Ostsee, die ihn zurechtgeschliffen haben, kühlen und entspannen den Körperdaumen. Die ganze Hand ruht. Wie auf einem Bett. Einem Steinbett. Einem Wasserbett. Einem Meeresbodenbett. Oder wundert sich. Denkt nach. Was auch immer. Nur der Zeigefinger mag sich noch bewegen, tippt leicht die Fingerkuppen an, die Spitzen des Steindaumens und des Auadaumens. Alle anderen Finger sind beschäftigt mit dem Zusammenhalt der Hand. Damit sie nicht auseinander stiebt. Damit kein Finger sich plötzlich verselbständigt oder verflüchtigt. Ringfinger und kleiner Finger legen sich anstandslos auf die Knie, als Verstärkung hinter den Mittelfinger in den Handteller. Mein Steindaumen hat den Nachteil, dass er nicht verbunden ist, weder mit der Hand noch mit dem Daumen noch mit dem Kopf. Dass ihm Muskeln, Knochen, Sehnen, Gelenke und Nerven fehlen. Er hat aber den Vorteil, dass ihn nichts verletzen kann. Kein Riss, kein Bruch, keine Entzündung, keine Schwellung, kein Verschleiß. Und er hat das Problem, dass er, falls niemand aufpasst, wieder in den Dreck fällt. Oder in den Schnee, der bald kommen wird, in den Strassengraben, in die Kanalisation. In der Meldorfer Bucht ins Watt. Dass er, falls wirklich keiner acht gibt, bei Ebbe im schwarzen Nordseeboden verschlickt.
Ein Finger allein kann ihn weder festhalten noch aufheben. Wir können fast gar nichts tun mit nur einem Finger. Ein vereinzelter Finger ist ziemlich verloren.

Wie oder wann mir mein rechter Daumen abhanden gekommen ist, wann er in die Ostsee oder in ein anderes Meer gefallen ist, weiß ich nicht. Am Timmendorfer Strand war ich in meinem ganzen Leben noch nie. Vielleicht wurde er angespült. Vielleicht verlor ich meinen Daumen schon vor Jahren. Vielleicht am Strand vor dem Hotel Emperor in Rajin-Sonbong. Oder vor Lahaina. Oder damals in Skagen, als ich im flachen Wasser stand und nur Augen hatte für das seltsame Zusammenspiel der Wellen. Als ich nicht verstehen wollte, obwohl ich es sah, wie sich die Nordsee an die Ostsee lehnt. Oder umgekehrt. Rücken an Rücken. Wie sich die Ostsee an die Nordsee lehnt.

Und es wird für immer ein Rätsel (oder ein Wunder) bleiben, wie oder weshalb es W. gelungen ist, sich ausgerechnet heute, an einem kalten Mittwoch im November am Timmendorfer Strand nach meinem verlorenen Daumen zu bücken.

1 Kommentar:

  1. Auf 4000 Meter Höhe in Nepal oberhalb von Muktinath bücke ich mich und finde meinen linken Daumen. Vor 4 Jahren bat mich meine Frau den Geschirrspüler zu reparieren. Dabei geriet ich in den Starkstromkreislauf. Fast wäre ich gestorben. Stattdessen wurde mein linker Daumen fast zerstört.
    Der Strom trat in den Daumen ein und aus. In einer mehrstündigen OP wurde der Daumen wieder hergestellt. Der Steindaumen hat sogar die Zickzack Naht und alle Charakteristika meines operierten Daumens. Niemand kann es glauben. Auch ich habe keine Erklärung dafür. Vielleicht wird es mir eines Tages klar........

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